Ein alter, grantiger Mann

Manuskript

Manuskript *

… das ist Egilbert, der Archivar von Lar Elien.

Ich sehe ihn immer in einer grauen Kutte vor mir, keine Ahnung warum. Er ist grauhaarig, ungeduldig und mag keine Frauen. Meistens sitzt er in seiner Bibliothek, die einen Raum in einem der Türme von Lar Elien einnimmt.

Viele Auftritte hat er bislang nicht in meinen Romanen, vor allem, weil einige Szenen mit ihm entfielen, als ich den ersten Band umgeschrieben habe. Klein Andert taucht nun nicht mehr auf, und so wurde auch die Geschichte von Anderts erster Schreibstunde mit Egilbert leider herausgeschnitten. Aber für euch krame ich sie wieder hervor.

Viel Spaß mit Klein-Andert und Goswin!

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Andert weigerte sich, ins Bett zu gehen. “Nein, ich will nicht schlafen!”
“Warum nicht?”
“Dann ist schon gleich morgen, und dann muss ich wieder zu Egilbert.”
Goswin seufzte und wünscht sich inständig, er könnte immer noch auf Marles Erfahrung zurückgreifen. Doch das Kindermädchen hatte sich gleich nach dem Essen verabschiedet. Er musste wohl oder übel alleine damit fertig werden.
“Freust du dich denn gar nicht auf das Reiten?”, versuchte er, seinen kleinen Freund abzulenken.
“Aber danach muss ich doch zu Egilbert.”
“Was ist denn an Egilbert so schlimm?”
“Alles!”, schluchzte der Junge.
Der Zwerg rollte mit den Augen und holte tief Luft. “Das ist keine gute Antwort”, erklärte er Andert mit mühsam erkämpfter Geduld. “Ich würde dir gerne helfen, aber dazu muss ich wissen, was passiert ist. Erzähl mir bitte, was Egilbert von dir wollte.”
Das Kind sah ihn mit großen Augen an. Dann begann es wieder zu weinen. “Aber das weiß ich doch auch nicht.”
Goswin atmete schnaufend aus. Heute abend wurde seine Geduld wirklich auf eine harte Probe gestellt. Nur allmählich drängte er seinen Zorn auf diesen Archivar zurück, der ihm das alles mit seiner Unfähigkeit eingebrockt hatte.
“Dann sag mir wenigstens, was ihr gemacht habt.”
Andert bemühte sich, seine Tränen hinunterzuschlucken und dem Wunsch seines Freundes nachzukommen. Er zog die Nase einige Male hoch, rieb sich über die Augen und begann schließlich zu erzählen.
“Er hat so ein Stück … ich weiß nicht, so ein flaches Ding auf den Tisch gelegt und etwas erzählt. Mit dem Finger hat er auf die Krakel gezeigt, die auf dem Ding waren. Dann hat er noch so ein Ding genommen und mir eine Gänsefeder gegeben. Und dann …” Andert zog noch einmal die Nase hoch und warf seinem Freund einen vorwurfsvollen Blick zu. “Dann hat er gesagt, ich soll das abschreiben.”
“Aha. Und was hast du gemacht?”
“Ich wusste nicht, was ich machen sollte.” Der Junge zog den Kopf ein. “Da wurde er böse.”
“Und dann?”
“Er hat gesagt, ich soll endlich die Feder in die Tinte tauchen und schreiben.” Wieder blickte Andert auf den Boden. “Als ich das getan habe, ist das Glas mit der Tinte umgefallen. Die blöde Feder passte gar nicht ganz rein.” Erneut kämpfte er mit seinen Tränen.
Der Zwerg musste sich ein Grinsen verkneifen. Nun verstand er Egilberts Aufregung schon besser, auch wenn das sein Verhalten nicht entschuldigte. “Was ist dann passiert?”
Der Junge beschrieb, wie er mit zwei Holzstücken ausgerüstet wurde, das eine flach mit Wachs darauf, das andere lang und rund, mit einem angespitzten Ende.
“Ah, eine Wachstafel und ein Griffel, gar keine schlechte Idee”, erklärte ihm Goswin, aber Andert war noch völlig in die Beschreibung des Unrechts versunken, das ihm widerfahren war, und ließ sich nicht beruhigen.
“Dann sollte ich wieder abschreiben”, klagte er. “Aber ich kann doch gar nicht schreiben.”
“Und dann?”
“Dann ist er weggegangen.”
“Und du?”
“Es war so langweilig. Ich habe Bilder in das Wachs gemacht.”
“Ach so. Was für Bilder denn?” Wieder konnte Goswin nur mit einer Anstrengung seine Mundwinkel daran hindern, verräterisch nach oben zu wandern. Er wusste nur zu gut, wie diese Bilder ausgesehen hatten.
“Von dir”, gestand ihm Andert leise. “Und von dem Pony. Mit dem stumpfen Ende kann man gut Haare malen.”
“Und dann?”
“Dann ist er wiedergekommen. Und als er die Bilder gesehen hat, war er richtig böse.”
“Hm. Ich glaube, den Rest habe ich gehört.” Der Zwerg stand auf und ging nachdenklich in Anderts Zimmer auf und ab. Nachdem er sich überlegt hatte, wie er ihm wohl am Besten erklären konnte, was sein Lehrer wirklich mit seinen Anweisungen gemeint hatte, setzte er sich wieder zu seinem kleinen Freund auf das Bett.
“Egilbert wollte von dir, dass du diese Krakel von dem Ding abmalst.”
“Was? Warum hat er das nicht gesagt?” Empört blickte Andert den Zwerg an. “Und was ist dann ‘schreiben’?”
“Krakel malen”, antwortete Goswin grinsend. Dann nahm den Jungen in den Arm und erklärte ihm, was es mit Pergament, Feder und Tinte auf sich hat. Andert hörte ihm eine ganze Weile aufmerksam zu, aber nach und nach wurden seine Augenlider immer schwerer, und schließlich lehnte er schlafend an Goswins Schulter.

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*Bildquelle: Old Prayer Book, Phrood, Wikimedia Commons

About Hannah Steenbock

Hannah Steenbock is an author, dreamer, and coach. She has published several short stories in English and German, as well as one novel in German. In 2013 she started self-publishing her work. In 2014, she has won two awards for her short story "Sequoia".
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